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Gedanken eines Lateinbegeisterten

Gedanken eines Lateinbegeisterten

Warum wurde Caesar ermordet? Für welches Gedicht wurde Ovid von Kaiser Augustus für den Rest seines Lebens ans Ende der Welt verbannt? Wie gut kannten die Römer das Weltall? Und warum lohnt es sich, Latein zu lernen?

Für mich persönlich war diese letzte Frage im Alter von fünf Jahren hinreichend beantwortet: Ich war fasziniert von Dinosauriern und hatte herausgefunden, dass die Dinos alle lateinische Namen tragen (tatsächlich tragen die Dinos eigentlich griechische Namen, aber der „König“ der Saurier wird mit dem lateinischen Zusatz rex bezeichnet). Mir war sofort klar, dass ich, um Dinosaurierforscher zu werden, Latein können müsste. Dass ich Jahre später tatsächlich in der fünften Klasse mit Latein als erster Fremdsprache anfing, war dann eher Zufall, allerdings einer der glücklicheren.

Latein und Griechisch bildeten bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts die unumstößliche zentrale Säule unseres Bildungssystems. Wer ein Gymnasium besuchte, lernte Vokabeln, Grammatik und antike Texte auswendig, die von den Lehrern so streng abgefragt wurden, dass der arme Hanno Buddenbrook stets mit einem allzu verständlichen Kloß im Hals das Ende des Unterrichts herbeisehnte. Heute ist es keineswegs mehr selbstverständlich, dass Latein (und erst recht Griechisch) gelernt werden. Dafür aber hat sich der Unterricht sehr, und man kann nur sagen zum Positiven, gewandelt. Auch jetzt lernt man Vokabeln und übt Grammatik, aber im Zentrum stehen die antiken Texte.

Unsere industrialisierte, digitalisierte und globalisierte Welt unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der der „alten“ Römer. Deren Welt, in der man Flüche auf kleine Metallplättchen schrieb, damit der verhasste Nachbar von Rachegeistern und Durchfall geplagt wird, in der man ständig Krieg führte, Frauen marginalisierte, Sklaven hielt und Gladiatoren zu Unterhaltungszwecken auf Leben und Tod miteinander kämpfen ließ, wirkt auf uns fremd, sogar abstoßend, bestenfalls noch skurril.

Der berühmte Redner, Jurist und Politiker Marcus Tullius Cicero kam morgens auf seinem Weg in den Senat, begleitet von seinem Sklaven, an nach Weihrauch duftenden Tempeln für die verschiedensten Götter vorbei, von deren Altären das Blut der Opfertiere tropfte, und musste vor jeder wichtigen politischen Entscheidung abwarten, ob die Priester auch günstige Vorzeichen, entweder im Flug der Vögel oder den Innereien geopferter Tiere, sahen, die Götter dem jeweiligen Vorhaben also ihren Segen gaben.

Doch worüber dachte Cicero nach, worüber unterhielt er sich mit Kollegen und Freunden? Eine der drängendsten Fragen seines Lebens war die Bedrohung der römischen Demokratie, die Cicero unbedingt erhalten wollte. Sie war nicht perfekt, ermöglichte aber einem Mann wie ihm, der nicht der Aristokratie entstammte, den Zugang zu den höchsten Staatsämtern. Die demokratische Ordnung sah sich jedoch von Männern wie Caesar bedroht, der seine große Beliebtheit bei der Bevölkerung dazu nutzte, sie durch eine Diktatur zu ersetzen. Diese Einführung der nach ihm benannten Kaiserherrschaft (zu seinen Lebzeiten wurde sein Name nicht wie von uns heute, sondern „Kaisar“ ausgesprochen) steht jedoch im Kontext einer lange kontrovers geführten Debatte: Wie sollte das durch die beständige Expansion stetig wachsende römische Reich, das zu seiner Hochzeit das gesamte Mittelmeergebiet von Großbritannien, über Süddeutschland, Frankreich Spanien, Nordafrika, Ägypten, Syrien, die heutige Türkei sowie die Balkanhalbinsel und Griechenland umfasste, verwaltet werden?

Und was beschäftigte Cicero, wenn er abends wieder zu Hause war? Er war zum Beispiel vom Weltall begeistert, das zu seiner Zeit bereits intensiv erforscht wurde. So hat zum Beispiel der griechische Naturwissenschaftler Thales im antiken Griechenland die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 vor Christus korrekt vorausberechnet. Auch an Philosophie war Cicero interessiert. Er schrieb mehrere Bücher über zahlreiche uns auch 2000 Jahre später nicht weniger drängende Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens, über den Umgang mit Leid und Tod oder über den Wert der Freundschaft. Cicero setzte sich ebenfalls kritisch mit dem Glauben seiner Zeitgenossen auseinander, indem er die gängigen religiösen Vorstellungen der Götter und religiöse Praktiken hinterfragte.

Auch andere Bereiche der römischen Kultur reflektierte er kritisch. In einem Brief an einen Freund äußerte er sein Mitleid mit einem in der Arena zur Unterhaltung des Publikums getöteten Elephanten. Und als Statthalter der Provinz Kilikien, in der heutigen Türkei, weigerte er sich, Jagd auf die bereits damals seltenen dort heimischen Leoparden zu machen, die er eigentlich als Attraktionen für die Gladiatorenspiele nach Rom schicken sollte. Als Anerkennung für diesen Beitrag zum Erhalt der noch immer vom Aussterben bedrohten Art wurde sie im Jahr 1856 nach Cicero Panthera pardus tulliana benannt.

Cicero war außerdem ein großer Fan des Theaters. Beliebte Themen in den von ihm gern gesehenen Komödien waren die Liebe eines jungen Paares, die sich gegen das Veto der Eltern behaupten muss, oder Verwechslungsplots wie in Erich Kästners Das doppelte Lottchen. Hätte Cicero etwas länger gelebt, wäre er sicherlich auch ein begeisterter Leser der Gedichte Ovids gewesen, um dessen Dating-Ratgeber es einen großen Skandal gab. Dem sittenstrengen Kaiser Augustus missfiel das Buch so sehr, dass er den Dichter aus Rom verbannte. Die Verbannung wurde erst vor kurzem, im Jahr 2017 offiziell von der Stadt Rom aufgehoben. Das Buch aber war so beliebt, dass Augustus es nicht verbannen konnte. So können wir noch heute lesen, welche Tipps Ovid für Verliebte hat.

Wer einmal in die faszinierende Welt der römischen Antike eingetaucht ist, kann andere Argumente, die ebenfalls für Latein sprechen, höchstens zweitrangig finden: Es mag dennoch bedacht sein, dass man durch die lateinische Sprache einen ganz natürlichen Zugang zu allgegenwärtigen Fremdworten erlangt. Außerdem sind Lateinkenntnisse an den Universitäten (vom lateinischen universitas: Gesamtheit) nach wie vor eine Voraussetzung für zahlreiche Studienfächer (vom lateinischen studium: Eifer, Mühe).

Dass man sich bereits in der fünften Klasse im Grunde ab der ersten Lateinstunde intensiv mit den eben umrissenen Themen beschäftigen kann, ist ein besonderer Vorzug des Katharineums, das nicht mehr viel mit der von Thomas Mann beschriebenen „Anstalt“ gemeinsam hat. Vielmehr lädt es gerade mit seinem mittelalterlichen Gebäude (inklusive lateinischer Inschriften) wie keine zweite Schule dazu ein, sich mit den Römern und der lateinischen Literatur der Antike zu beschäftigen. Und auch wenn man am Ende kein Dinosaurierforscher wird, bietet die römische Antike und die aus ihr überlieferte Literatur so viele faszinierende Aspekte, wirft Fragen auf und drängt zur Auseinandersetzung, dass für alle etwas dabei ist, ob man als künftige Bundeskanzlerin den eigenen Redestil an der Rhetorik Ciceros schärft, sich als Naturwissenschaftler von den bereits in der Antike geleisteten Erkenntnissen inspirieren lässt, als angehende Star-Philosophin Anregungen an den Quellen der westlichen Philosophie sucht oder einfach nur ein paar Tipps für ein Date oder eine verständnisvolle Stimme bei Liebeskummer braucht.

Hauke Schneider,

wissenschaftlicher Mitarbeiter der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel,

Abitur am Katharineum 2010