Kurz vor dem bevorstehenden Abitur gab es im Kernfachunterricht unterschiedliche Angebote, Rückschau auf die behandelten Themen der letzten drei Jahre zu halten und kreativ das aufzugreifen, was persönlich als besonders ansprechend empfunden wurde.
Lina Erdmann entschied sich für den Mythos „Pyramus und Thisbe“ aus den „Metamorphosen“ des Ovid: das berühmte Motiv des jungen Liebespaares, dessen verfeindete Eltern die Beziehung verhindern wollen, sodass sich die Liebenden eines Nachts heimlich treffen müssen. Am vereinbarten Treffpunkt, einem weiße Früchte tragenden Maulbeerbaum, muss die zuerst eintreffende Thisbe vor einer Löwin flüchten und verliert dabei ihren Schleier. Diesen mit dem Blut des Löwen versehenen Schleier findet Pyramus, glaubt, seine Geliebte sei tot, und nimmt sich in Trauer das Leben. So stößt Thisbe nach ihrer Rückkehr auf den leblosen Geliebten und bittet, bevor auch sie den Selbstmord wählt, um ein gemeinsames Grab und um die Färbung der Maulbeeren – rot zur Erinnerung an das blutige Ende.
Diesen Maulbeerbaum sieht man auf der einen Bildhälfte, seine Kraft bezieht er aus dem vergossenen Blut des Liebespaares. Dreht man das Bild, erkennt man vor dem schwarzen, den Tod andeutenden Hintergrund das friedlich im Tode vereinte und körperlich verschmolzene Liebespaar, dessen Adern in die Wurzeln des Baumes übergehen, sodass sie dort weiterzuleben scheinen.
Die zeitlose Kraft der Liebe – einer von vielen roten Fäden, der sich durch die drei Jahre lateinischer Literaturerfahrungen gezogen hat. Dieses Motiv berührte zuletzt in der Liebesgeschichte von Aeneas und Dido aus Vergils Nationalepos die meisten Kernfachabsolventen, befremdete sie allerdings auch als politisch instrumentalisiertes Gefühl in den Intrigen der politisch mächtigen Zeitgenossen des Sallust.