Aus dem Leben.
Apokalypse Tag 12
Ich bin ja ein großer Anfechter der Religion und mal ganz ehrlich, der freie Wille und alles, schön und gut, und klar sind die Menschen dran Schuld (wäre ja auch komisch, wenn wir mal nicht die Sündenböcke wären), aber wann wenn nicht jetzt mal ein Kampfblatt gegen die Götter und Göttinnen und den ganzen Kram schreiben …?
Hört ihr mich, da oben oder unten oder in mir oder wo auch immer ihr so seid? Ich find’s ganz schön mies, dass ihr mich bestraft. Warum bitte? Ich hocke mein ganzes Leben schon in meinem kleinen Zimmer und schau noch nicht einmal Streamingdienste, sondern schreibe Tagebuch und spiele Kniffel, bin erst sechs Mal geflogen und zwei Male davon als kleines Kind, trinke Hafermilch und Leitungswasser, habe schon mit zehn meinen eigenen Gemüsegarten angelegt, ich unterstütze Ureinwohner und gute Pflege von Tierheimen, schreibe keine Hasskommentare bei Youtube, habe bis jetzt meine Eltern noch nicht beleidigt (außer in Gedanken, aber hey ein bisschen Privatsphäre bitte), rufe meine Großeltern alle zwei Wochen an, mache freiwillige Kunstwettbewerbe mit, tue meinen kleinen Geschwistern zur Liebe immer noch so, als ob es den Weihnachtsmann geben würde, schlage Fremdwörter in meinem Fremdwörterlexikon nach, lache über Witze meines Bruders, habe eine Bambuszahnbürste und bezahle selbst meinen Führerschein!
Das Einzige, das man mir zur Last werfen kann ist, dass ich 36 T-Shirts habe und nur 11 davon regelmäßig anziehe, dass ich Artikel für unsere Schulhomepage schreibe und nicht schon längst für die Times, dass ich manchmal „wegen dir“ und nicht „deinetwegen“ sage und immer noch Shawn Mendes-Musik höre, okay?!
Wenn man sich mein Sündenregister so ansieht, gebe ich zu, dass es belastende Dinge gibt, aber das rechtfertigt doch – mal ehrlich – nicht, dass ich desozialisieren muss, keine Ölfarben kaufen kann und deshalb an Acryl verzweifle, meine Augen und Hände vom Abtippen meiner Arbeitsaufträge ganz abgenutzt werden, ich den Eigenarten mancher Mitbürger ausgeliefert bin, auf Grund einer Langeweilebewältigung durch Essensaufnahme eineinhalb Kilo zugenommen habe und ernsthaft zwei Stunden meines Lebens darauf verschwenden musste auf Anweisung Atemschutzmasken für meine Familie zu nähen.
Obwohl… die eineinhalb Kilo sind sogar optisch betrachtet an den richtigen Stellen platziert worden (etwa von euch Göttern*Göttinnen, als kleine Aufmunterung?), weshalb das aus der Gleichung fällt, aber der Rest wiegt schwer genug, um mir einen Anwalt zu nehmen, finde ich.
Ihr müsstet nur kurz mit mir in Kontakt treten, dann könnten wir den Scheidungstermin oder was es sonst so benötigt, um mich von euch zu lösen, vereinbaren. Ich habe absolut keine Lust mehr, unter eurer Fitiche zu stehen!
Apokalypse Tag 13
Es hat doch tatsächlich einen Stromausfall bei uns gegeben, nachdem ich das gestrig Geschriebene abgespeichert habe. Also im Enddeffekt war es mein Vater, der die Sicherung rausgedreht hat, weil er irgendetwas mit Strom warten musste und wohl keine Lust auf den frühen Stromschlagtod hatte, aber Zeichen ist Zeichen. Ich werte das also als Annahme von eurer Seite, den juristischen Kriegsweg einzuschlagen.
Mir ist nur soeben schmerzlich bewusst geworden, dass die Gerichte zur Zeit keine unbedingt zu führenden Tagungen abhalten und mein Fall wohl erst nach einer psychologischen Gesundheitskontrolle meinerseits durchgeführt werden wird. Aber keine Angst, so schnell gebe ich mich nicht geschlagen.
Apokalypse Tag 14
Ich hoffe sehr, dass Herr Fick, mein Philosophielehrer, das hier niemals zu lesen bekommt. Nach einem Vierteljahr Unterricht zum Thema Theodizee, würde er mich jetzt wahrscheinlich mit dem Kursbuch erschlagen naja oder mich vielleicht auch meiner einfachen Gedankengänge loben, sicher kann man sich da nie wirklich sein. Jedenfalls würde es eine komische Diskussion anleiten. Ich frage mich gerade, was er (falls Sie das lesen, Sie, liebe Grüße) dann ins Kursbegleitbuch als Unterrichtsthema schreiben würden: „Schülerin klagt Gott an und, weil sie hochmütig ist, auch gleich alle, aller Religionen“ oder „nach Coronablackout und Dummheit einer Schülerin: Wiederholungseinheit ‚Trägt Gott Schuld?'“…
Aber ich schweife ab, ich wollte von einem anderen Gedanken erzählen, der mir von Zeit zu Zeit zu schaffen macht.
Warum steht auf Shampooflaschen nicht einfach groß drauf, ob es für die Haare, für den Körper, gegen Läuse oder eine Spülung ist? Hat das was mit dem Design zu tun oder einfach mit Diskriminierung von Weitsichtigen. Dachten sich die Herrsteller so: „Hey größter Idiot, wer das lesbar draufschreibt! Wir verwenden höchstens Schriftgröße 8, sonst denken die Leute noch, das wäre für Sehbehinderte und haben Angst vor dem belustigtem Blick des Kassierers“ oder was bitte?
Ich finde das wirklich den größten Mist, und dann haben die alle auch noch die gleiche Form und Größe. Ich muss jedes Mal ins Haus rufen und mindestens drei Minuten in der Dusche rumstehen, bis ich halb erfroren bin, bis einer aus meiner Familie kommt, die Tür öffnet, die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinkt, ich meinen Arm mit dem zu erforschenden Behältnis aus der Dusche strecken muss und es noch kälter wird und derjenige mir dann die Etikette vorliest und ich endlich Gewissheit habe. Danach könnte man ja meinen, alles wäre in Ordnung, aber nein, derjenige muss dann ganz plötzlich auf Toilette, Zähne putzen, oder wo man jetzt schon einmal hier ist irgendetwas putzen. Nicht das mich das stören würde, aber derjenige sieht es dann (weshalb auch immer) als seine Pflicht an, meine Singstimme, mein Zeitmanagement, meine Augen, meine Ungeduld und überhaupt meine Vergesslichkeit und die Häufigkeit eines solchen Vorfalls zu kritisieren.
Normalerweise würde ich mich über die Schriftgröße von Schampooflaschen ja nicht so aufregen, es ist nur, weil das lezte Mal, dass ich geduscht habe, leider nicht so routiniert verlaufen ist. Denn anstatt eines Familienmitglieds, stand der kleine Nachbarsfreund meines Bruders plötzlich vor mir und las ganz geflissendlich „Ko-loor-gla-glaanz-flee-ege-s-spüülung“ vor, ich stotterte „danke“ und schaute ihm verblüfft nach, wie er das Bad wieder verließ. Ich musste unbedingt erfahren, ob die 68-Erziehung der Eltern seiner Eltern immer noch Standart in derem Haushalt war oder ob er ein gewöhnlicher Schlafwandler war und – dringlicher –, ob er vorhat, irgendetwas von unserer „Begegnung“ weiterzuerzählen.
-M.