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Der erste Shoa-Gedenktag am Katharineum

Der erste Shoa-Gedenktag am Katharineum

Der 27.01. – der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz sollte in diesem und in allen kommenden Jahren an unserer Schule ein Tag des Gedenkens sein. Dieses Jahr musste der Gedenktag aufgrund der Pandemie auf den 14.06. verschoben werden. Intention und Inhalt blieben aber die gleichen. Nach der Israelfahrt 2019 entwickelte sich die Idee, an unserer Schule im Rahmen eines jährlich wiederkehrenden Gedenktages den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken, Aufklärungsarbeit zu leisten und die Sensibilität für dieses Thema zu stärken. 

Der Anschlag in Halle 2019 und andere Vorkommnisse der letzten Monate und Jahre führen uns vor Augen, wie verbreitet Antisemitismus in Deutschland ist und wie mangelndes Wissen über das Judentum und die jüdische Gesellschaft zu Ignoranz, Vorurteilen und Hass führen kann. 

Mit diesem Gedenktag versuchen wir diesem Antisemitismus vorzubeugen.

Zu diesem Zwecke bildete sich vor über einem Jahr eine Gruppe von 22 Teilnehmer:innen. Es wurde ein Konzept für jede Jahrgangsstufe entwickelt, sodass die einzelnen Jahre inhaltlich aufeinander aufbauen. Außerdem wurde mit Externen für einzelne Jahrgangsstufen ein Konzept ausgearbeitet und Fördergelder wurden akquiriert. Wir stießen auf große Unterstützung bei der Schulleitung, Frau Müschen, Frau Markmann, der Haukohl-Stiftung und der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinischer Gedenkstätten. Noch bis zum 13.06.21 wurde intensiv an den einzelnen Programmen für die Klassen gefeilt, damit am nächsten Tag auch alles glatt laufen würde. 

 

Den Anfang machten die fünften Klassen, die in den ersten beiden Schulstunden das Angebot „Meet a Jew“ wahrnahmen. Leider ging dies nur digital. Durch das Gespräch mit gleichaltrigen Jüd:innen und entsprechende Nachfragen konnten die Schüler:innen etwas über das Judentum erfahren. So wird schon in jungem Alter Vorurteilen vorgebeugt, die vielleicht erst später entstanden wären. Vornehmlich ging es aber erst einmal darum, die jüdische Kultur und den jüdischen Glauben näher kennenzulernen.   

 

 

Die sechsten Klassen besuchten gestaffelt die Synagoge von Lübeck. Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, Leonid Kogan, erzählte den Sechstklässler:innen erst auf dem Vorplatz des Gebäudes etwas zur Geschichte der Synagoge bis hin zur Renovierung im Jahr 2014, dann durften die Schüler:innen auch in das Innere. Im Gebetsraum erfuhren die Klassen dann etwas zu jüdischen Ritualen, den Feiertagen, der Esskultur und vieles mehr. Nach einer dreiviertel Stunde ging es mit neuen Eindrücken zurück in die Schule. 

 

Würdest du in einem Land leben wollen, indem du nur auf bestimmten Bänken sitzen darfst? In einem Land, in dem dir tagtäglich vor Augen geführt wird, dass du weniger wert bist, weil du nicht dem “arischem” Bild entsprichst? In einem Land, in dem dir viele Menschen den Tod wünschen? Mit diesen und vielen weitere Fragen hat sich der 7. Jahrgang am Shoa-Gedenktag beschäftigt. Vorlage war das Buch “Damals war es Friedrich” von Hans Peter Richter. „Damals war es Friedrich“ handelt von einem jüdischen Jungen, der zu Zeiten des NS-Regimes mit seiner Familie in Deutschland aufwächst und extremen Antisemitismus erfahren muss. Die 7. Klassen haben jeweils in sechs Gruppen mit Ausschnitten aus dem Buch und anderen Materialien zu verschiedenen Themen Plakate, PowerPoints, Standbilder, Diskussionen und Einladungen erarbeitet und der ganzen Klasse präsentiert. Ganze vier Schulstunden gab es viele neue Erkenntnisse über die Hitlerjugend, die Bar Mizwa, die Reichspogromnacht, sowie über die Vorurteile und Ausgrenzung gegenüber Jüd:innen. 

Zu jedem Thema gab es vorab einen Infotext, aber auch die digitale Arbeit durch die erweitertete Recherche an Laptops kam nicht zu kurz. Die Klassen wurden von je zwei Oberstufenschüler:innen, die Mitglieder der Gedenktags-AG am Katharineum sind, begleitet. Bei der Feedbackrunde am Schluss konnte jedes Kind zu Wort kommen und Kritik sowie positive Aspekte über das Konzept und die Inhalte äußern. Viele Kinder erzählten von neu errungenem detaillierten Wissen sowie einer bewussteren emotionalen Ebene zu der Shoa und den Lebensumständen der Juden unter Hitlers Diktatur. „Jetzt (nach diesem Vormittag) verstehe ich, warum wir den Shoa-Gedenktag wirklich brauchen und jedes Jahr wiederholen sollten!“ Diese Aussage von einem Schüler in der Feedbackrunde hat genau das gespiegelt, was die Intention des Gedenktages ist: jede/n Schüler:in mitzunehmen, um zu sensibilisieren und zu informieren!

 

 

Der achte Jahrgang guckte den Film „Das Tagebuch der Anne Frank“ von 2016. Vor oder nach diesen gut zwei Stunden gab es einen Vortrag von Mitgliedern der Gedenktag-AG, der sich mit Hitlers Rassentheorie und der Eskalation der Judenpolitik beschäftigte. Dafür wurde ein Ausschnitt aus “Mein Kampf”ausgeteilt, mit dem die Klassen das Menschenbild Hitlers erarbeitet haben. Im Anschluss wurden die Erkenntnisse an Daten, Bilder und Ereignisse geknüpft wie die Nürnberger Rassegesetze und die Reichspogromnacht.

 

Das Konzept für den neunten Jahrgang war in zwei Abschnitte geteilt. Den einen bildete ein Vortrag, in dem zunächst geklärt wurde, was überhaupt die “Shoa” ist und welche Verbrechen damit gemeint sind. Im Anschluss wurde ein Abriss über die Geschichte des Antisemitismus gegeben sowie über die deutsche Historie seit dem Kaiserreich. Außerdem wurden Biografien von deportierten und ermordeten Lübecker Jüd:innen herangezogen und von den Schüler:innen vorgelesen, um den vielen grausam Ermordeten ein Gesicht zu geben.

Den zweiten Teil bildete eine eineinhalbstündige Stadtführung, die sich auf die Spurensuche nach jüdischem Leben vor dem Zweiten Weltkrieg, aber auch heute begab. Sie startete an der Schule: Die erste Station bildete die Synagoge, an der die bewegte Geschichte der jüdischen Gemeinde und der Synagoge seit dem 17. Jahrhundert wiedergegeben wurde. Danach gingen die Gruppen zum Zeughaus (neben dem Dom), dass das Hauptquartier der Gestapo in Lübeck war, und in dem viele politische Gefangene und andere verfolgte Gruppen festgehalten wurden. Vor dem Gebäude befindet sich heute ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle und politische Gegner. Die dritte Station war die Hanse-Schule in der Dankwardsgrube, denn dort war früher, als an dieser Stelle noch Gastronomie war, der Treffpunkt der Arbeiterbewegung im Lokal „Zentralhallen“. Danach wurde der jeweiligen Klasse ein Foto der Breiten Straße gegeben, wie diese vor dem 2. Weltkrieg aussah, und in kleinen Gruppen sollte im Anschluss der genaue Ausschnitt, wie er heute aussieht, gesucht werden. Danach ging es zu dem Geschäft Schuhbode, das früher Schuh Kay hieß und der jüdischen Familie Blumenthal gehörte, bevor diese, wie viele, von den Nationalsozialisten enteignet wurde und ihren Laden aufgeben musste. Auf dem Marktplatz erfuhren die Klassen am Denkmal für die Lübecker Märtyrer etwas über den evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink und die katholischen Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek und ihren Kampf für Gerechtigkeit. 

In der Mengstraße sollte das gewaltsame Aufeinandertreffen von Nationalsozialisten und der politischen Opposition deutlich werden, denn am oberen Ende der Straße war das sogenannte „Braune Haus“, die Kaserne von SA und SS und weiter unten war ein Zentrum für Organisationen wie der „Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Sozialpolitischer Organisationen“, der „Roten Hilfe Deutschland“, dem „Internationalen Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit“ und dem „Bund der Freunde der Sowjetunion“. Die letzte Station in der Stadt war der Stolperstein von Erich Mühsam, einem Dichter und ehemaligen Schüler des Katharineums. Zurück in der Schule wurden die Namen der Jüd:innen aus Lübeck, die in der Shoa ermordet wurden, vorgelesen.

 

 

Das Konzept für den 10. Jahrgang wurde in vielen Videokonferenzen in enger Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der Gedenkstätten von Lutherkirche und Lübecker Märtyrern erarbeitet. Mittels historischer Perspektive auf die Lübecker Märtyrer und dem NS-Staat im Allgemeinen sollte das Menschenbild der Nationalsozialisten beleuchtet werden. In stetigem gegenseitigen Austausch mit den Schüler:innen begegneten wir einem Menschenbild, das die Gesamtheit aller Menschen in einer Hierarchie der Wertigkeit gegeneinander aufwog. Und eben jene gesellschaftliche Hierarchisierung ist noch immer in gesplitterter Form in den Köpfen vieler Menschen vorzufinden: Attentate wie in Hanau, Halle oder die jüngsten Ereignisse im Israel-Palästina-Konflikt verdeutlichen die Notwendigkeit, über jene gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in ständiger Reflexion zu diskutieren.

Wir können von großem Glück sprechen, mit solch aufgeschlossenen vier Klassen des E-Jahrgangs den 14. Juni verbracht zu haben. Losgelöst vom schulischen Alltag wurden in Garten und Gemeindehaus, auf Kirchbänken und neben den Arkaden Schwerpunktthemen wie etwa Schule im Nationalsozialismus, das Idealbild der nationalsozialistischen deutschen Familie oder auch die Euthanasie in Eigenarbeit der Schüler:innen vorbereitet und der Gruppe präsentiert. All diese Themenschwerpunkte waren es, die eine Vorstellung von dem genannten Menschenbild bei jedem Teilnehmenden entstehen ließen. Abgeschlossen wurde der Tag mit Bezügen zur aktuellen Lebensrealität. Das Grundgerüst hierfür bildete eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die mittels einer Umfrage die Zustimmung oder aber Ablehnung zu solch gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit innerhalb der Gesellschaft analysierte. Durch die Impulse der Studie konnte in allen vier Klassen ein angeregter Austausch über die Inhalte entstehen.

Im Gedächtnis bleiben wird ein Tag voller Gedenken, Erschütterung bis hin zu Entsetzen, aber auch von spannenden Gesprächen und motivierten Schüler:innen, der zu einem sehr gelungen Auftakt eines hoffentlich wiederkehrenden Gedenktages avancierte.    

 

Der 11. Jahrgang bekam einen Workshop der KIGA (Kreuzberger Initiative zu Antisemitismus). Jede Klasse wurde von zwei Externen betreut und das Programm drehte sich thematisch um “Darf man das?” und “Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen”. Es wurde mit verschiedenen Methoden von Einzelarbeit, Gruppendiskussion bis hin zu Rollenspielen gearbeitet. Außerdem wurden Videos verwendet und am Anfang ein historischer Überblick gegeben. Es wurden aktuelle Fallbeispiele herangezogen und Ereignisse zur Diskussion gestellt. In einer Art Abschlussdiskussion wurden die Erkenntnisse gesammelt und mögliche Orientierungslinien für das eigene Verhalten gefunden. Das gesamte Programm dauerte sechs Schulstunden.

 

Wir danken noch einmal ausdrücklich Herrn Philippi, Frau Müschen und der gesamten Lehrerschaft, dass sie uns das Vertrauen geschenkt haben, diesen Gedenktag durchzuführen!

Auch danken wir allen Klassen, dass sie größtenteils so ernsthaft, interessiert und offen zusammen mit den Mitgliedern unserer Gruppe die einzelnen Konzepte durchgeführt haben und gezeigt haben, dass diese Idee langfristig an der Schule funktionieren kann!

Denn es geht nicht darum, dass ihr irgendwelche Jahreszahlen auswendig lernt, sondern dass wir alle durch Wissen versuchen, dem Antisemitismus in Deutschland vorzubeugen, damit sich alle jüdischen Mitbürger:innen in Deutschland wohl und sicher fühlen. Denn wir tragen zwar nicht die Verantwortung für das, was geschehen ist, aber sehr wohl Verantwortung dafür, dass es nie wieder geschieht. 

 

Nia Lode, Malte Hoge und die Redaktion der Website-AG

 

Die diesjährige Gruppe, die sich um die Organisation und Durchführung des Gedenktages gekümmert hat, wird durch den Weggang der Abiturient:innen stark dezimiert, deshalb würden sich die übrig gebliebenen Mitglieder sehr darüber freuen, nächstes Jahr von neuen interessierten Mitschüler:innen unterstützt zu werden! Ansprechpartnerin ist die neue Schüler:innensprecherin Greta Radke.

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