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„So stehen wir und warten auf den Tod“ Zeitzeugengespräch mit Jurek Szarf

„So stehen wir und warten auf den Tod“ Zeitzeugengespräch mit Jurek Szarf

Was können wir als junge Generation, der der Nationalsozialismus und der Holocaust so lange her erscheint, von Opfern der Zeit des Nationalsozialismus lernen und für eine bessere Zukunft mitnehmen? Das hat Jurek Szarf den Klassen Q1c und Q2d am 31.03.2023 berichtet und uns seine Lebensgeschichte erzählt.

 

1933 geboren, wurde er mit nur sechs Jahren mit seinen polnischen und jüdischen Eltern, seiner Tante und seinen drei Onkeln für vier Jahre ins Ghetto Lodz verschleppt. In dem Zeitraum hatte er seine erste sehr traumatische Begegnung mit den Nationalsozialisten. Sie haben bei ihnen die Tür aufgebrochen, als Jurek als kleiner Junge gerade auf dem Tisch saß, weil seine Schnürsenkel zugebunden werden sollten. Die Nazis kamen herein, er wusste nicht wie ihm geschieht, da er noch so klein war, und hat seine Arme ausgestreckt, weil er dachte, dass er auf den Arm genommen wird. Doch einer der Nazis nahm ihn hoch und schleuderte ihn gegen eine Wand, sodass er ohnmächtig wurde. Seine Mama hat geweint und sein Vater gezittert. Wie Menschen anderen Menschen so etwas Grausames antun können, ist unverständlich.

Das Leben nach diesem Vorfall im Ghetto beschreibt er als unruhig. Der Tag, an dem das deutsche Abitur seiner Tante ihm das Leben gerettet hat, folgte bald darauf. Der Leiter des Ghettos, Biebow, brauchte eine Sekretärin, die Deutsch spricht. Dadurch, dass Jureks Tante diesen Job bekam, hatte er eine Lebensversicherung von diesem Tage an: Sie sagte, er sei alles, was sie habe, und müsse bei ihr bleiben, und diese Lebensversicherung für Jurek, die besagte, dass er von da an von Transporten in KZs befreit war, solange sie für den Ghettoleiter arbeiten würde, unterschrieb Biebow im Nebel des Alkohols.

Der Ghettoleiter war ein grauenhafter, schrecklicher Mensch. Er hat aus seinem fahrenden Auto täglich Menschen erschossen als ‚Hobby‘. Als eines seiner Kinder schwer krank war, fragte er im Lager nach einem jüdischen Kinderarzt, der dann mit einem speziellen Transport an verschieden Tagen aus dem Lager zu ihm nach Hause gebracht wurde und tatsächlich sein Kind heilen konnte. Am letzten Tag, als das Kind wieder gesund war, wollte die Sekretärin den Mann wieder zurück ins Lager bringen, doch er war nicht mehr da. Der Leiter des Ghettos hatte ihn, der sein Kind geheilt und somit vorm Tod bewahrt hatte, erschossen, weil er ihn nun nicht mehr brauchte.

In den Jahren 1942/1943 bekamen Jurek und seine Familie durch die Tante, die als „Beamtin“ eingestuft war, mehr zu essen. Es war eine Seltenheit, die der Tante zu verdanken war, dass nach diesen Jahren immer noch die Eltern, er selbst und seine drei Onkel lebten und noch als Familie zusammen waren. Bis 1944 mussten sie Zwangsarbeit im Ghetto leisten, wobei er selbst Tüten für die Wehrmacht geklebt hat. Inzwischen war er schon zehn Jahre alt, aber hatte nie die Möglichkeit gehabt, zur Schule gehen zu können: „Es gab nicht so etwas wie die Schule. Es gab nur den Tod“.

1944 wurde dann das Ghetto geschlossen und seine Familie und er wurden in ihr erstes Konzentrationslager nach Ravensbrück gebracht, dem noch zwei weitere folgen würden. Die Verteilung auf Vernichtungs- und Arbeitslager ging nach dem Aussehen. Wer z.B. graue Haare hatte, wurde als alt und somit arbeitsuntauglich eingestuft wie beispielsweise seine Großeltern, die erschossen wurden und die er nie wiedergesehen hat.

Das Konzentrationslager Ravensbrück war das größte Frauenlager und lag im heutigen Fürstenberg/Havel im Norden von Brandenburg. Er konnte aufgrund seiner Tante mitkommen, obwohl er der einzige Junge war. Seine Tante, Mutter und er wurden also von seinem Vater und den Onkeln getrennt. Die Männer kamen nach links und die Frauen nach rechts.

Die Fahrt in Viehwaggons haben viele der Menschen nicht überlebt, denn sie waren extrem unterernährt und in den mit Menschen vollgestopften Waggons konnte man kaum atmen. Jurek hat sich auf den Boden gelegt und durch einen kleinen Spalt unter der Tür geatmet. Als sie ankamen, hat seine Tante zu Jurek gesagt, als die Nazis nach dem Jungen fragten: „Wo ich bin, bist auch du!“ Dadurch, dass sie, obwohl sie als „dreckige Jüdin“ bezeichnet wurde, sehr gut deutsch sprach, wurde das von den Nazis akzeptiert und die Worte „Der Kleine geht mit mir!“ haben ihm das Leben gerettet.

In den Baracken haben er, seine Mutter und Tante zusammen in einem Bett geschlafen, seine Beine waren von Läusen zerfressen und sie hatten sehr wenig Essen. Als Zwangsarbeit hat er Schuhe und Arbeitskleidung genäht und sie wurden von trockenem Brot, braunem Zucker und Margarine ernährt. Der Judenälteste in dem KZ Rutkowski wurde später in Ausschwitz vergast. Da es überall Läuse gab, wurden alle Juden zu einer Entlausung gerufen. Die Nazis haben ihnen Unkrautvernichter übergegossen, sodass ihre Haut verbrannt war, wodurch er drei Tage lang nichts sehen konnte und was später zu einer Vorstufe von Hautkrebs führte.

Dann wurden sie ins nächste Konzentrationslager, nach Königs Wusterhausen, gebracht, was ein Außenlager des KZs Sachsenhausen war, in Oranienburg nördlich von Berlin gelegen. Dort haben sie wie durch ein Wunder seinen Vater und seine Onkel wiedergetroffen. Jurek schildert seinen und den Zustand seiner Familie als „mehr tot als lebendig, aber wir leben“. Seine Häftlingsnummer in dem KZ war die 79297. „Man hatte keinen Namen mehr“. Bis heute geht ihm die Nummer nicht mehr aus dem Kopf. Er war zu jung, deshalb gab es für ihn dort keine Arbeit. Sein Gewicht lag ca. bei 20-30 kg mit elf Jahren.

Seine Mutter ist dann dort in Königs Wusterhausen verhungert und seine Tante wurde im Zug nach Ausschwitz ermordet. Sie hatte eine Durchfallerkrankung wegen des mangelhaften Essens und die Nazis zwangen andere Juden in dem Zug, die Frau aus dem fahrenden Zug zu werfen. Einer seiner Onkel wurde unterwegs erschossen, ein anderer erschlagen, sodass dann ein Jahr vor Kriegsende von seiner Familie, die so lange noch durchgehalten und es geschafft hatte, sich irgendwie durch die Gräueltaten hindurch am Leben zu erhalten, schließlich nur noch sein Onkel, sein Vater und er in das für sie letzte KZ Sachsenhausen deportiert wurden.

Jurek selbst hatte eine Blutvergiftung und konnte nur noch zehn Meter gehen. Sein Onkel war auch extrem unterernährt und dünn, nur sein Vater konnte noch stehen in ihrer abgeriegelten Baracke. Sie sollten mit anderen getötet werden. „So stehen wir und warten auf den Tod, wenn wir erschossen werden.“

Doch plötzlich wurde mit einem lauten Krach die Tür aufgebrochen und das Lager am 22. April 1945 von der sowjetischen Armee befreit. Die drei Überlebenden seiner Familie wurden in Berlin in einem von den Nazis verlassenen Haus aufgepäppelt und gepflegt und bekamen Essen von den Russen. Fünf Jahre nach der Befreiung starb sein Vater an den Folgen der Konzentrationslager und sein Onkel zog nach Amerika. Da Jurek erst siebzehn Jahre alt war, kam er in ein Jugendheim.

Mit der Erreichung seiner Volljährigkeit nahm er ein Schiff nach Amerika, wo er bei einem Freund aus dem damaligen Ghetto unterkam. Mit 21 heiratete er eine deutsche Frau, deren Eltern aus Lübeck stammten. Obwohl er sich in Amerika viel wohler fühlte, sich bis heute als Amerikaner fühlt und damals Angst hatte, nach Deutschland zurückzukehren, wollte er nicht, dass seine Kinder wie er selbst ohne Großeltern aufwachsen, und so zogen sie 1972 mit ihren zwei Kindern nach Lübeck.

Vor 25 Jahren wurde ihm in der psychiatrischen Behandlung, in der er die traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten versucht, gesagt, dass er seine Geschichte erzählen müsse, sonst werde er krank. Daraufhin hat Jurek Szarf ein Buch geschrieben, „Ich lebe, um zu überleben“, und geht seit zwanzig Jahren durch Schulen, um seine Geschichte zu erzählen.

Viele Menschen, die ähnliches erlebt haben wie Herr Szarf, haben lange geschwiegen. Er selbst als eines der wenigen Kinder, die überlebt haben, konnte anfangs nicht glauben, dass er ein Mensch ist wie alle anderen auch, dass er ins Kino gehen darf und die anderen Deutschen dort nicht die schrecklichen Deutschen von damals waren.

Jurek Szarf erzählte auch davon, dass er sich während der Inhaftierung in den KZs nicht mehr an seinen Namen erinnern konnte. Er konnte nicht mehr glauben, dass er eine Person ist, die einen Namen verdient, da er nur noch eine Nummer war und Worte, mit denen er beschimpft wurde wie „Judensau“, als seinen Namen ansah. Selbst seinen Kindern hat Herr Szarf erst durch sein Buch von seinen Erfahrungen erzählt. Traumatische Erlebnisse wie seine erste Begegnung mit den Nazis prägen ihn bis heute, sodass er selbst nach all diesen Jahren keine Schnürschuhe mehr tragen kann.

Auf die Frage, was wir heute als junge Generation mit der Vergangenheit unseres Landes tun sollen, appelliert Herr Szarf an uns, den Frieden zu bewahren, aber sagt auch, dass die schreckliche Vergangenheit Deutschlands nicht unsere Schuld sei, sondern nur, dass wir dadurch belastet sind. „Du trägst einen schweren Rucksack, hast aber keine Schuld daran.“ Es ist wichtig, dass Geschichten wie die Lebensgeschichte von Jurek Szarf gehört, erzählt und weitergegeben werden, denn es gibt auch heute noch Antisemitismus. „Antisemitismus ist eine Krankheit, gegen die es keine Medikamente gibt.“

 

Wir danken Jurek Szarf von Herzen, dass er uns besucht hat und wir die Möglichkeit hatten, seiner Lebensgeschichte zu folgen und ihm persönlich Fragen zu stellen.

 

Mavie Vidal für die Redaktion des Website-Teams