Strömender Regen – die Temperaturen kratzten an der 0-Grad-Grenze. 19 Menschen sammelten sich vor der JVA Lübeck. Was hatten sie vor? Geschlossen ging die Gruppe zum Besuchereingang, gab die Personalausweise ab und musste alles einschließen außer einem Taschentuch.
Mit Besucherausweis ging es weiter. Erst saßen wir eine geraume Zeit im Wartezimmer, zusammen mit einer Anwältin und ein paar Angehörigen. Irgendwann kamen zwei Justizvollzugsbeamte, holten zuerst die Mädchen, dann die Jungen ab. Erst ging es durch eine vom Flughafen bekannte Sicherheitskontrolle, mit nachfolgendem Abtasten. Einige mussten auch ihre Schuhe zur Kontrolle ausziehen. Vielleicht ist ja etwas in den Absätzen versteckt? Einige mit Gürteln und diversen Ketten und Armbändern Ausgestattete brauchten etwas länger durch die Schleuse, aber am Ende standen alle in einem kleinen Zwischenraum.
Die Pastorin, die die Gruppe begleitete, führte uns durch viele Sicherheitstüren einen Gang entlang, bis wir ins Freie traten. Aus dem strömenden Regen war Schneefall geworden. Wir waren umgeben von meterhohen, mit NATO-Stacheldraht bedeckten Mauern, unzählige Kameras sahen jede kleinste Bewegung. Wir hetzten über den Hof und kamen an einem mehrstöckigen Haus vorbei, das den harmlosen Namen „Gustav“ trägt. Vor dem Haus beobachten wir etwas, was man sonst eigentlich nur aus amerikanischen Blockbustern kennt, einen umzäunten Hof mit ein paar Sportgeräten, auf dem einige Häftlinge Runde für Runde im Kreis gingen, um ein wenig Bewegung zu bekommen. Alle trugen sie eine ausgebeulte Jeans, schwarze Sneakers und dunkelgrüne Pullover. Beim Vorbeigehen wurden wir leicht gemustert, bevor wir das Gebäude, von dem man die ganze Zeit über nur eine riesige weiße Wand sah, betraten. Nachdem wir einen Flur durchliefen, fanden wir uns in einer überraschend großen Halle wieder. Aber wir waren nicht mehr allein… zwei Herren standen auch in der Halle. Wir gingen eine Treppe hoch, die beiden folgten uns, und wir setzten uns in die Gefängnis-Kapelle. Jetzt wäre der günstige Zeitpunkt darüber aufzuklären, was uns überhaupt in ein Gefängnis verschlägt: Im Zuge der Thematik Ethik/Gewissen/Schuld besuchte der Religionskurs von Frau Kreienberg-Brandt aus dem Q1-Jahrgang das Gefängnis, um über eben diese Thematik mit zwei Häftlingen zu sprechen.
Die beiden Männer, die uns unten in der Halle empfingen, waren diese beiden. Und hinter der großen, weißen Wand befindet sich das Gebäude mit den Häftlingen, die im offenen Vollzug sind oder Freigang haben. In der Kapelle gab die Pastorin eine kleine allgemeine Einführung, was überhaupt ihre Aufgabe ist. Sie ist die evangelische Pastorin des Gefängnisses und hält Gottesdienste ab, organisiert verschiedene Veranstaltungen zu Weihnachten und anderen christlichen Feiertagen. Gleichzeitig hat sie aber auch ein offenes Ohr für alle Einsitzenden und redet mit ihnen und teilweise mit deren Familien. Man merkte der Pastorin an, dass sie in dem christlichen Grundsatz der Vergebung völlig aufgeht, ohne Vorbehalte den Häftlingen entgegentritt und dabei in jeder erdenklichen Art ihr Verständnis, ihre Empathie und ihre Unvoreingenommenheit zeigt. Die beiden Insassen wurden uns als Herr Müller und Herr Lehmann vorgestellt, das sind nicht ihre richtigen Namen, was ihnen Anonymität gewährleistete und somit auch gewisse beidseitige Hemmnisse verminderte.
Wir bekamen völlig freie Hand in dem, was wir fragten, und natürlich konnten Herr Müller und Herr Lehmann jederzeit sagen, dass sie die Frage nicht beantworten möchten. Wie vorher im Unterricht beschlossen, wollten wir uns der Frage, die natürlich alle umtrieb, langsam nähern und erst einmal ein paar allgemeine Dinge zum Gefängnisalltag fragen. „Wie ist das Leben? Was arbeiten Sie? Wie ist das Essen?“ Letzteres soll übrigens wirklich ganz gut sein. Herr Müller empfindet den Montag als schlimmsten Tag: Veggie-Day. Der ältere der beiden, Herr Lehmann, arbeitet als Lehrer in der Schule des Gefängnisses. Dort wird Deutsch als 2. Fremdsprache unterrichtet, es gibt Schreib- und Leseunterricht für die Analphabeten, von denen es wohl mehr gebe, als man denke. Außerdem kann man sogar einen Hauptschulabschluss machen. Herr Müller ist zuständig für die Höfe, die Beete und Pflanzen. Man bekommt im Gefängnis 120€ im Monat und muss davon Dinge wie Rasierklingen, Telefonieren etc. bezahlen. Man erhält eine Ausstattung an Häftlingskleidung. Möchte man im gelockerten Vollzug private Kleidung tragen, muss man 6€ im Monat für die Reinigung zahlen.
Auch erkundigten wir uns über die Arbeits- und Essenszeiten. Aufgeschlossen wird um 7:00, Arbeitsbeginn ist um 7:15, um 11:45 gibt es Mittagessen. Dann arbeiten die Gefangenen noch einmal bis 16:45. Nachmittags und abends gibt es diverse Gruppen: Die einen spielen Fußball, die anderen Volleyball. Aber es gibt auch viele Therapiesitzungen. Bei diesem Tagesablauf handelt es sich immer um den gelockerten Vollzug. In dem „Gustav-Gebäude“, das wir als erstes sahen, befindet sich die U-Haft, die Schutzhaft und der geschlossene Vollzug. Dort verhält sich alles wesentlich strenger.
Wir näherten uns immer mehr der unumgänglichen Frage: „Weshalb sitzen Sie ein?“
Doch schließlich fasste jemand Mut und fragte. Bereitwillig antworteten die beiden. Nach einer halben Stunde mehr oder weniger Smalltalk wussten wir dann, wer da eigentlich vor uns saß:
ein Mörder und ein Sexualstraftäter. Ich denke, es ist menschlich nachvollziehbar, dass es zu ein paar Sekunden Stille kam. Doch die ersten trauten sich jetzt, persönliche Fragen zu stellen. „Wie verarbeiten Sie Ihre Tat? Tut es Ihnen leid? Was ist im Nachhinein das Schlimmste für Sie?“
Herr Lehmann, der Mörder, erzählte, dass es bei ihm fünf, sechs Jahre gedauert habe, bis er sich die Tat nicht mehr schöngeredet habe. Er probierte auch einmal, zu der Familie des Opfers Kontakt aufzunehmen, diese lehnte ab. Inzwischen sitzt er 12 Jahre im Gefängnis und findet nach wie vor, das Schlimmste sei, was er den Angehörigen damit angetan habe: seiner Familie und der des Opfers.
Zu Herrn Lehmann sollte an dieser Stelle noch gesagt werden, dass er eine wirklich intelligente Methode gefunden hatte, von seiner Tat zu erzählen. Während er von dem Tathergang berichtete, hatte man das Gefühl, er würde das völlig neutral und unbeschönigt erzählen, aber er ließ immer kleine Details einfließen, die ihn in ein besseres Licht rücken sollten. Diese Methode und Taktik fiel uns anfangs nicht auf, und er schaffte es sehr gut, uns völlig für seine Erzählung einzunehmen. Erst als wir die riesigen Mauern verließen, waren wir nach und nach wieder in der Lage, rational auf das zurückzublicken, was uns erzählt wurde, und auch Unstimmigkeiten und Verschleierungen zu entdecken.
Nun zu Herrn Müller, dem Sexualstraftäter: Er erzählte sehr wenig von seiner Tat, sondern nur den Grund seiner Inhaftierung. Er sitzt schon 3 1/2 Jahre und wird noch weitere 1 1/2 in der JVA verbringen. Menschen, die wegen eines Sexualdelikts inhaftiert sind, müssen 16 verschiedene psychologische „Stationen“ durchlaufen, mit jeweils zehn Modulen. Das ist Pflicht neben der Arbeit.
Ähnlich wie Herr Lehmann fand Herr Müller am schlimmsten, was er den Angehörigen angetan hat. Man merkte ihm an, wie er sich für seine Tat schämte, er schaffte es aber nicht, uns davon zu überzeugen, dass er inzwischen das „Beschönigen“ seines Verbrechens abgelegt hat.
Was uns, glaube ich, kollektiv ziemlich perplex gemacht hat, waren die Antworten auf die Frage, ob sie die Art der Strafe und Strafmaß berechtigt finden.
Zuerst Herr Lehmann: Am Anfang fand er die Strafe zu hoch, hat sich aber inzwischen damit abgefunden, dass er mindestens 15 Jahre sitzen wird. Er würde sich jetzt schon bereit fühlen, wieder aus dem Gefängnis zu gehen.
Herr Müller fand das Strafmaß gerechtfertigt, er wird mit 25 Jahren das Gefängnis wieder verlassen. Auch er würde sich jetzt schon bereit fühlen, das Gefängnis zu verlassen.
Die Pastorin vertrat die Meinung, dass so hohe Strafmaße eigentlich nicht nötig seien. Es mache keinen Unterschied, ob jemand acht Jahre säße oder 15. Weiter findet sie es schwierig, Verbrechen nach ihrer Schwere zu beurteilen. Natürlich klinge ein Mord erstmal viel schlimmer als ein Tankstellenüberfall. Sie habe aber vorher in einer geschlossen Psychiatrie gearbeitet, und da säßen dann die Leute, die ausgeraubt worden seien und ein Trauma davongetragen hätten. Die Strafen verminderten nicht das Leid der Opfer.
Wir alle waren sehr überrascht, dass eine Pastorin eine so starke Meinung zu diesem Thema in der Form vertritt.
Die Frage, die jeden Gefangenen umtreibt, ist, wie er wieder ein normales Leben führen soll. Es ist schwierig, einen Job zu finden, da man in sehr vielen Bewerbungen Zeugnisse vorlegen muss und ein sauberes Vorstrafenregister braucht. Es kommt hinzu, dass man eine Wohnung finden muss. Mit auf den Weg bekommt ein Entlassener ungefähr 1200€, die Miete und Essen für den ersten Monat decken sollen, danach ist man auf sich allein gestellt.
Herr Lehmann und Herr Müller sahen der Zukunft relativ positiv entgegen und hofften darauf, eine Arbeit zu finden und in irgendeiner Form wieder soziale Kontakte zu knüpfen. Betont werden sollte an dieser Stelle, dass beide noch engen Kontakt zu ihren Familien pflegen und von diesen unterstützt werden. Beide sind also bei ihrer Freilassung nicht völlig auf sich allein gestellt.
Einige wählen anstatt ihrer Freilassung auch den Freitod, weil ihre Chancen in der „richtigen Welt“ so aussichtslos sind.
Der Dialog mit den beiden Häftlingen endete mit der Beschreibung des Verhältnisses der Insassen untereinander, der Gewalt und dem Dealen. Sehr verbreitet unter Sträflingen sei es, dass sie sich immer jemanden suchen, der etwas noch Schlimmeres als sie gemacht hat, jemanden, der für ihr Gewissen noch unter ihnen steht. Unter den Verbrechen gibt es also quasi Abstufungen, eine Hierarchie. Sexualstraftäter seien die Unbeliebtesten und sie würden von fast allen anderen verachtet.
Ab und zu gibt es Auseinandersetzungen untereinander. Im letzten Jahr gab es sogar eine Geiselnahme einer Psychologin mit einem Messer, das aus der Küche entwendet wurde. Völlig offen wurde von Herrn Lehmann, Herrn Müller und der Pastorin über den Drogenkonsum geredet. Kurz gesagt: „Man bekommt alles, wenn man will.“
Das Gespräch endete damit, dass die beiden sich dafür bedankten, dass wir sie wie „normale“ Menschen behandelt haben.
Durch unzählige Türen, über den Hof, durch Korridore entlang ging es zurück in den Eingangsbereich. Wir holten unsere Handys, Portemonnaies und alles Weitere. Von einem Beamten bekamen wir unsere Personalausweise wieder und verließen die JVA nach knapp vier Stunden.
Wir waren alle sehr nachdenklich, vielleicht auch etwas mitgenommen und realisierten nach und nach, was uns erzählt worden war und was, böse gesagt, auch teilweise für Spielchen mit uns getrieben worden waren. Langsam begannen wir, uns auszutauschen und Eindrücke zu teilen.
Wir bekamen einen Eindruck von dem Schuldgefühl von Häftlingen und eine Ahnung davon, wie sich dieses auch über die Zeit der Inhaftierung entwickelt. Gleichzeitig erlebten wir, wie in Deutschland Verbrechen bestraft werden. Die Verurteilten werden nicht einfach 15 Jahre eingesperrt, sondern sie bekommen viele Angebote, um das Geschehene aufzuarbeiten und es selbst zu reflektieren und wieder mit sich leben zu können.
Bei uns allen wird dieser „Ausflug“ sicherlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen und er hat uns klargemacht, wie viel Wirklichkeit wir nicht kennen.
Wir bedanken uns bei Frau Kreienberg-Brandt und Frau Zepke-Lembcke, dass sie unserem Religionskurs diesen Einblick ermöglicht haben und uns diese neue Sicht auf Strafe und Vergebung eröffnet haben.
Redaktion des Website-Teams