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„In der DDR konnte man auch NEIN sagen“ - Grenzen überwinden 2023

„In der DDR konnte man auch NEIN sagen“ – Grenzen überwinden 2023

Am Montag, 03. Juli, trafen sich Schülerinnen und Schüler aus dem 11. Jahrgang des Katharineums und der Rostocker ecolea-Schule, um im Rahmen der Projektwoche „Grenzen überwinden“ über die ehemalige innerdeutsche Grenze zu wandern. „Grenzen überwinden“ bringt Schülerinnen und Schüler aus dem früheren Osten und Westen Deutschlands zusammen, um gemeinsam die deutsch-deutsche Geschichte zu erforschen. In diesem Jahr haben wir Zeitzeugen zum Thema „Menschenrechte in der DDR“ interviewt.

In Rothenhusen kamen wir nach einigen Kennenlernspielen schnell ins Gespräch über verschiedene Menschenrechte. Dabei wurde deutlich, wie selbstverständlich einige davon für uns heute sind, doch auch, dass diese nicht in allen Ländern zur Normalität zählen. Über einzelne Menschenrechte diskutierten wir in der Gruppe intensiv und kontrovers. Gemeinsam schauten wir abends den Film „Das schweigende Klassenzimmer“, um einen Eindruck der DDR, der Meinungsfreiheit und der Fluchtmöglichkeiten vor dem Bau der Mauer zu bekommen.

Am Dienstag wanderten wir zum Grenzhus in Schlagsdorf. Dort fanden wir uns zu Gruppen zusammen und bereiteten die Zeitzeugengespräche des kommenden Tages methodisch und inhaltlich vor. Wie formuliert man offene Interviewfragen, mit denen die Zeitzeugen zum Erzählen motiviert werden? Wie strukturiert man ein Interview? Wie geht man mit schwierigen Situationen um, wenn ein Zeitzeuge von seinen Gefühlen überwältigt wird? Auf der Basis der verschiedenen Lebensgeschichten dachten wir uns Fragen aus, bei denen der rote Faden „Menschenrechte“ im Mittelpunkt stand.

Höhepunkt der Fahrt waren die Gespräche mit den Zeitzeugen am Mittwoch. Die älteste unserer Zeitzeuginnen war 95 Jahre alt und konnte von Erfahrungen mit Menschenrechtsverletzungen in zwei verschiedenen Diktaturen berichten. Alle Zeitzeugen hatten dramatische Lebensgeschichten mit Brüchen hinter sich. Mehrere waren in der DDR inhaftiert und wurden nach Jahren im Gefängnis von der Bundesrepublik freigekauft. Wir hörten Geschichten über Zwangsumsiedlung, über die Bewachung der Grenze, über gelungene und gescheiterte Fluchten nach Westen, über Isolationshaft und Solidarität unter Häftlingen, über Verrat durch Stasispitzel, über Abschiede und Neuanfänge. Die Gespräche dauerten mehrere Stunden und sie haben uns tief beeindruckt. Mit Menschen sprechen zu dürfen, die solche Erfahrungen gemacht und überstanden haben, war ein Geschenk. Wir sind dankbar, dass wir ihre Geschichten hören durften.

Nach den Gesprächen hielten wir unsere persönlichen Eindrücke in Form von Briefen an die Zeitzeugen fest. Dazu wählten wir Zitate aus, die uns besonders beeindruckt hatten. Ein paar Eindrücke aus diesen Reflexionen:

Jürgen Eggert (*1942) kam aus einer Akademikerfamilie und sollte deshalb in der DDR zunächst nicht zum Studium zugelassen werden. Als sein Bruder in den Westen floh, wurde er mit 19 Jahren ein erstes Mal verhaftet und wegen angeblicher „staatsfeindlicher Hetze“ zu drei Jahren Haft verurteilt. Weil er mutig seine Meinung sagte, verbrachte er viele Wochen in Einzelhaft. Die Stasi notierte, wie er später in seiner Akte nachlas, man habe ihn trotz stundenlanger Verhöre nicht „brechen“ können. Nach seiner Entlassung verhaftete ihn die Staatssicherheit später – einen Tag nach seiner Hochzeit – erneut und sperrte ihn wieder ins Gefängnis. Damit seine Kinder nicht wie er in einer Diktatur aufwachsen müssen, stellte Jürgen Eggert 1975 einen Ausreiseantrag (den er uns vorlas) und reiste kurz vor Ende seiner Pfarrer-Ausbildung in die BRD aus.

Am meisten sind mir Ihre Worte „Man konnte in der DDR auch ‚Nein‘ sagen…“ in Erinnerung geblieben. Es hat mir gezeigt, dass man in der DDR Möglichkeiten hatte, sich zu widersetzen und dass dies auch einige getan haben. Bis jetzt hatte ich immer gedacht, dass sobald man etwas gegen das Regime gesagt hat, wurde man entweder sofort eingesperrt oder erschossen. Doch Sie haben mir gezeigt, dass man trotzdem seiner Meinung treu bleiben kann und dies auch tun sollte.

Aus dem Gespräch sind mir die Worte „Wir sind hier und nicht die Kommunisten!“ im Kopf geblieben. Zwei Dinge nehme ich aus diesem Satz mit: Zum einen den Stellenwert der Zugehörigkeit zur Familie, zum anderen den Widerstand gegen die Unterdrücker der DDR… Den Widerstand, den sie geleistet haben, finde ich sehr inspirierend…, da er nicht verbittert oder durch eine Ideologie geprägt wirkt, sondern für mich menschlich und glaubhaft… Die Erinnerung Ihrer Standhaftigkeit möchte ich mit in mein Leben nehmen, doch nicht nur die, sondern auch Ihre Erziehungsmethode, die eigenen Kinder ‚nach bestem Wissen und Gewissen‘ zu erziehen.. In unsicheren Zeiten sind Standhaftigkeit und ein Gewissen wichtig, damit man sich nicht verliert…

Holger Timmreck (*1959) wuchs in einem regimekritischen Elternhaus auf und wurde in der DDR nicht zum Hochschulstudium zugelassen. Nach seinem Grundwehrdienst scheiterte er 1980 mit einem Fluchtversuch und wurde zweieinhalb Jahre ins Gefängnis gesperrt. 1982 kaufte die Bundesrepublik ihn frei und er studierte in Köln Sport. Holger Timmreck arbeitete als Sportjournalist für RTL und Premiere, bis er 2012 der Liebe wegen als Lehrer an die Deutsche Schule nach Lima in Peru ging, wo er noch heute lebt.

Ihre Erzählung darüber, dass Sie sich im Gefängnis das erste Mal in der Lage gesehen haben, Ihre Meinung öffentlich zu äußern, hat uns die Absurdität des Regimes vor Augen geführt. Aus mehreren Quellen … wussten wir, dass es für viele Menschen in der DDR sicherer war, wenn sie Ihre Meinung nicht öffentlich zur Sprache gebracht haben. „Das darfst du denken, aber nicht sagen“ hat uns dies noch einmal genauer vor Augen geführt. Dass Sie sich im Gefängnis frei fühlten, hätten wir früher nicht für möglich gehalten.

Nach Ihren Erzählungen können wir nur vermuten, wie Sie sich als 21-jähriger unter schwerstkriminellen Langzeittätern gefühlt haben. Deswegen bewundern wir Ihr Durchhaltevermögen und verstehen, weshalb die Worte ‚Timmreck, Sachen packen‘, noch bis heute die schönsten für Sie sind.

Irmgard Sinner (*1928) wurde in Ostpreußen geboren und floh 1945 mit ihrer Familie in die DDR. Sie wurde Musikerzieherin, heiratete 1952 und bekam zwei Töchter. Aufgrund eines Verrates ihres Mannes, der seit 1979 im Gefängnis saß, wurde Frau Sinner ebenfalls verhaftet und zu 5 Jahren und sechs Monaten Haftstrafe verurteilt. Nach einem Ausreiseantrag wurde 1986 ihre Übersiedelung in die BRD genehmigt. Sie erlebte Menschenrechtsverletzungen in zwei Diktaturen, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und der DDR.

Alles hat seine Zeit, geboren werden, sterben, alles!“ … Ich finde es beachtlich, mit welcher Stärke und Tapferkeit Sie Ihren Schicksalsschlägen entgegen getreten sind. … So wie Ihr Glaube sich während der Zeit im Gefängnis gefestigt hat und Ihnen als Stütze diente, um damalige Geschehnisse zu verarbeiten, so half er mir auch schon in schwierigen Momenten meines Lebens…. Ich möchte mich lange an das Gespräch mit Ihnen erinnern und Ihre lebensfrohe Art nie vergessen.

Ich hatte bei unserer Begegnung den Eindruck, dass Sie im Tanzen eine Passion gefunden haben, die sie aus vielen schwierigen Lebenssituationen herausgeholt hat, weil es Ihnen die Kraft gibt, das Positive am Leben zu entdecken. Ich selber tanze Ballett seit 13 Jahren und das Tanzen gibt auch mir eine innere Ruhe, Stärke und Selbstbeherrschung und ich hoffe, dass ich etwas finde, was mir wie Ihnen ein ganzes Leben hindurch einen sicheren Halt gibt.

„Und da dachten wir immer, da geht es uns doch eigentlich gut. Du musst immer nach den anderen gucken.“ Dieser Satz hat mich sehr beeindruckt, da ich es als sehr schwierig empfinde, eine solche selbstlose Sicht zu vertreten, wenn es einem selber nicht optimal ergeht. Sie zeigten damit, dass es immer schlimmer sein kann, und man für die Dinge, die man hat und erleben darf, dankbar sein sollte. Ich persönlich will mir … daran ein Beispiel nehmen und mir persönliche Sachen aus dem Alltag nicht so zu Herzen nehmen… vielleicht hilft Ihre Devise, auf andere zu achten, einen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

Also man muss nur immer weitergehen, nicht stehenblieben oder stehenbleiben und bei sich selber bleiben und dann weitergehen“ ist mir sehr im Gedächtnis geblieben. Ich finde Sie haben auf eine sehr schöne Art und Weise verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich nicht von Rückschlägen im Leben aufhalten zu lassen, sondern immer weiter seinen eigenen Weg zu gehen.

Dr. Reno Stutz (*1962) kommt aus einer Bauernfamilie und bekam in der DDR als erster in seiner Familie die Chance, das Abitur zu machen. Er absolvierte Anfang der 1980er Jahre seinen Wehrdienst als Grenzsoldat im Grenzabschnitt zwischen Pötenitzer Wiek und Herrndorf. Im Gespräch gab er Einblicke in den Alltag der Grenztruppen der DDR und schilderte unter anderem, wie der Schießbefehl kommuniziert wurde und vor welche Dilemmata er die Grenzsoldaten stellte.

„Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Es gibt eine Menge Grautöne.“ Ich schätze Ihre Entscheidung uns als Zeitzeuge Einblicke in die kritische Geschichte Deutschlands zu geben sehr. Insbesondere deshalb, weil Sie auf Seiten der DDR standen und damit viel Mut zeigen, heute darüber zu reden.

„Ich hatte schon immer auch damals das Gefühl, das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun“, hat … meine Perspektive auf die Unterstützer des DDR-Regimes verändert. Die DDR und ihre Bewohner pauschal als „die Verteidiger des Schlechten“ zu verurteilen, ist in vielen Fällen nicht gerechtfertigt. Dass der Grundwehrdienst jeden Mann in der DDR für mindestens anderthalb Jahre verpflichtete für die DDR zu dienen oder mit den Konsequenzen einer Verneinung zu leben, war mir nicht bewusst. Die moralische Verurteilung dieser Männer ist also nicht immer fair, da auch sie häufig unfreiwillig den Dienst antraten.

Hannelore Quandt stammt aus Zarnewenz bei Dassow und wuchs in einer Großbauernfamilie auf. Ihr Vater wurde 1945 von Soldaten der Roten Armee erschossen.1952 wurde sie mit ihrer Familie zusammen in der sogenannten ‚Aktion Ungeziefer‘ zwangsumgesiedelt, da ihr Hof dicht an der innerdeutschen Grenze lag und ihre Familie als regimekritisch galt. Sie machte in der DDR Abitur und floh 1961, kurz vor dem Bau der Mauer, mit ihrer ganzen Familie über Berlin in den Westen. Frau Quandt konnte erst 1990 wieder in ihre Heimat Zarnewenz zurückkehren.

„Erhaltet die Demokratie, erhaltet die Freiheit und den Frieden“ und „Freiheit ist das große Glück“ – Mir persönlich sind diese beiden Zitate besonders in Erinnerung geblieben. Sie haben uns mit ihren Erfahrungen die Bedeutung von Demokratie und Freiheit sehr anschaulich näher gebracht. In unserer Generation ist Demokratie etwas, was sehr schnell als Selbstverständlichkeit angesehen werden kann und Ihre Erzählungen haben mir diesbezüglich die Augen geöffnet.

Mich hat nach unserem Gespräch vor allem Ihr Mut und Ihr Durchhaltevermögen beeindruckt und ein Zitat habe ich besonders für mich behalten: „Mir hat man gesagt ‚Halte den Mund‘, … aber ich tue es nicht.“. Ich glaube, diese Aussage zu beherzigen, ist wichtig, egal ob man in einer Demokratie oder in einer Diktatur lebt. Den Mund nicht zu halten bedeutet, sich nicht unterkriegen zu lassen und seine Meinung niemals zu verschweigen. Auch in unserer heutigen Demokratie ist das wichtig, da man nur so ein aktiver Teil der Gesellschaft ist.

Wir danken unseren Lehrerinnen Frau Gerresheim und Frau Behrens (Rostock) sowie Herrn Dr. Wagner, Luisa und Lasse vom Grenzhus Schlagsdorf für die Organisation und Workshops dieser besonderen Woche.

 

Ein großer Dank gilt allen Zeitzeugen, dass Sie sich die Zeit genommen haben und uns an ihrer Geschichte teilhaben ließen. Wir sind sehr beeindruckt von Ihren Erzählungen und werden dieses Gespräch und Ihre Geschichte sehr lange mit uns tragen. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft!

Merle B., Mavie V. für die Redaktion des
Website-Teams, in Zusammenarbeit mit Frau Gerresheim