„Das Ich konstruiert sich im Blick des anderen“. Sartre, durchaus zurechtgebogen, zitierte er häufig. Die Anderen, wir, und unser Blick auf ihn, unseren am 24. Januar 2024 im 77. Lebensjahr verstorbenen Kollegen Jürgen Fick, waren – und zumal in den letzten Jahren – erfüllt von Anerkennung, Wohlwollen und Bewunderung für die Energie, die Unanfechtbarkeit, die Selbstverständlichkeit, mit der er das Katharineum symbiotisch lebte.
In der Tat fehlen Begriffe, diese Beziehung pointiert zu erfassen; allzu abgestanden erscheint die Bezeichnung als „Urgestein“, so als wäre da jemand übriggeblieben, herüberragend aus einer versunkenen Zeit in die Gegenwart, den zu verabschieden man irgendwie versäumt hatte, der nun unvermeidlich persistierte und milde belächelt, aber auch mit verschämtem Stolz herumgezeigt werden konnte. Jürgen blieb, über die Pensionsgrenze hinaus, aus freien Stücken, er war zeitlos in mancherlei Hinsicht, jünger als viele, die nach ihm kamen, unverrückbar und ein Mensch, von dem man nicht glauben musste, dass ihn überhaupt irgendetwas aus der Welt nehmen könnte. Ihn erlebte, ihn dachte man im Indikativ Präsens – „so ist Jürgen“ war die geläufige Formel, mit der sich das gelegentliche Ärgernis, das sich aus seinen Eigenwilligkeiten ergeben haben mochte, sogleich in ein lächelnd weiterzugebendes Anekdotisches wendete. Dafür brauchte es nicht einmal Nachsicht, es reichte die Einsicht in die Unabänderlichkeit.
Er war auf eine Weise groß, die es verboten hat oder, mehr noch, niemandem überhaupt in den Sinn brachte, ihn nach landläufigem Maßstab zu beurteilen, und diese Größe lag fraglos in seiner Unverrückbarkeit: einem Sein, das sein eigener Grund ist. Dies machte Begründungen überflüssig und Einwände haltlos, es gab Orientierung und Verlässlichkeit.
Gewiss, sein Unterricht hätte den verbindlichen Kriterien in keinem Punkte standgehalten. Dennoch und deshalb verehrten ihn viele seiner Schülerinnen und Schüler, in deren Biographie er sich unverlierbar eingeschrieben hat. Wenn es eines Letztbeweises für Hatties Quintessenz bedürfte, dass es entscheidend auf jenen ankomme, der vorne steht: Hier wurde er, zu jedem Tag, in jeder Stunde erbracht. Das ließ niemanden kalt. Jürgen hat Spuren hinterlassen, bisweilen auch Narben, die nie verschwanden.
Impulsivität, Intuition und Interesse setzten seinem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, pedantischer Pflichterfüllung und vorbehaltloser Kollegialität Grenzen; dies zu leugnen oder im gegebenen Rahmen pietätvoll zu verschweigen, hieße abzustreiten, was Jürgen so einzigartig, so authentisch, so liebenswürdig machte und unseren Blick auf ihn mit Sympathie erfüllte. Gelegentlich, so schien es, befeuerte es geradezu das Wohlgefühl, von ihm in geeigneter Weise übers Ohr gehauen worden zu sein. Ein filoufreundlicher Blick aus Hans-Albershaft maritimen Augen zwang die zum Widerspruch Bereiten ins Einvernehmen. Diese grundlegende Unerschütterlichkeit freilich hätte schwerlich verfangen können, wenn sich nicht Charme und Chuzpe auf ein felsenfestes Fundament staunenswerter Fähigkeiten hätten beziehen lassen. Seine ‘Zehnerfragen’ sprudelten verlässlich als generationenumspülende Dauerdusche aus einem unerschöpflich anmutenden Reservoir breitgefächerter Bildung, die mitreißen und anstecken konnte, so wie eben seine schiere Präsenz, seine Kraft, seine Stimme befeuerten, vorantrieben, zusammenhielten.
Gravitationszentrum dieses von ihm geordneten Kosmos war fraglos das Krippenspiel, dem im Laufe der Jahre etwas beinahe Kultisches, zumindest im Kreise der an ihm Beteiligten, zugewachsen war. Es war ihm heilig. Darin ging er auf bis fast zum letzten seiner Tage, und in der Tatsache, es als quasi väterliches Erbe über den Zielstrich der Jahrhundertfeier geführt zu haben, mag für ihn ein Vermächtnis erfüllt worden sein. Wir sprachen, schon vor seiner Erkrankung, gelegentlich miteinander über den Tod, einig darin, dass der Abschied am leichtesten sei, wenn das Ende des Lebens mit dessen Ziel zusammenfalle. Was es Jürgen gekostet haben mag, den Kampf mit seiner Krankheit aufzunehmen und seine Kräfte schwinden zu sehen, konnte man ahnen, auch wenn er darüber nichts mitteilte. Als die Niederlage sich für ihn, der, obwohl oder weil Sportler, ungern Zweiter wurde, als unabwendbar abzuzeichnen begann, ging er noch einmal aufs Spielfeld der Prellballer, soufflierte ein letztes Mal den Krippenspielern; das war ergreifend. Er, der zeitlebens Fakten geschaffen hatte, war nun, wie es in Sartres Diktum eigentlich heißt, nurmehr ‘Objekt’, nicht länger im Blick der anderen, sondern im Angesicht des Todes. Ob Ende und Ziel zusammenfielen? Möge ihn, den tief gläubigen Christen, ein gütiger Gott anblicken und ihm Frieden schenken.
Das Katharineum zu Lübeck trauert um Jürgen Fick. Wir verneigen uns vor dem Menschen und werden lächeln, sooft wir seiner gedenken.
Jan Kempe